Er war einst der Schnellste

Tokio weckt Erinnerungen: Stadtdechant Wolfgang Voges hat als Schüler bundesweit Karriere als Geher gemacht.

In der Regel kennt man ihn als Priester zurückhaltend gewandet – an diesem Morgen kommt er mit seinem Sportrad auf das Gelände des DJK-Sportplatzes gefahren – in Sportklamotten und mit einem Pokal in der Tasche. Den hat der heute 64-jährige Priester,  Domkapitular und Stadtdechant als Schüler bei der Wettkampfsportart Gehen gewonnen.

Die Olympischen Spiele in Tokio haben ihn dazu gebracht, noch einmal in seinen alten Unterlagen zu wühlen. Eine ganze Mappe bringt er mit und zeigt sie Joachim Niesel, Geschäftsführer der DJK und Abteilungsleiter für Leichtathletik. Kirche und Sport sitzen hier fachsimpelnd zusammen, bei Voges beides sogar in Personalunion. Stolz zeigt er eine handschriftliche Liste mit 40 Wettbewerben vom 1000-Meter- bis zum 5000-Meter-Bahngehen vor. 

Bis auf vier Mal ist Voges immer als Erster ins Ziel gegangen und immer wieder hat er neue Bestmarken aufgestellt. „Ich will ja nicht angeben“, leitet Voges bescheiden ein und zitiert dann einen Zeitungsbericht: „... dehnte er seinen Vorsprung stilistisch hervorragend auf über 50 Meter aus und siegte in 10:11,0 Minuten, einer Zeit, die von einem Schüler in der Bundesrepublik noch nicht erreicht wurde“. Voges blickt hoch: „Und in der DDR auch nicht.“

Natürlich kann man dann auf sich auch stolz sein. Auch wenn es um eine Sportart geht, die eher „blöd“ aussieht, räumt Voges ein. Das haben seine Mitschüler damals immer wieder gesagt, aber bewundert haben sie seine Bestleistungen trotzdem. Das war in Salzgitter-Lebenstedt, einer damaligen Hochburg für das Gehen.

„Wir Kinder standen bei den Wettbewerben immer am Straßenrand“, erzählt Voges. Aus Jux habe er das Gehen in der Sporthalle nachgemacht, als sein Sportlehrer und gleichzeitig Geher-Trainer bei der LG Salzgitter auf ihn aufmerksam wurde. Voges ist ein Naturtalent, erkannte er gleich und nahm ihn im August 1968 zum Training mit. Zwei Monate später lag der Junge schon im Wettkampf auf Platz vier, danach bis Anfang der 1970er Jahre fast immer auf Platz eins. 

Voges ist dabei buchstäblich in die Fußstapfen seines großen Vereinsvorbilds Gerhard Weidner getreten, der ihm immer seine abgelaufenen Sportschuhe schenkte: „Brüttingschuhe, die hätte ich mir niemals leisten können.“  Weidner wurde 1972 bei den Olympischen Spielen in München Sechster, Gold holte damals Bernd Kannenberg. Voges und Joachim Niesel seufzen. Das waren Zeiten. Wie Showmaster Joachim Fuchsberger damals verkündete: „Die fröhlichen Spiele“. Bis PLO-Terroristen israelische Sportler als Geiseln nahmen und erschossen.

Einen Moment lang schweigen die beiden Männer bei der Erinnerung, um dann wieder über Sport zu reden. Nicht über Leistungen, sondern über das, was auch Voges früh geprägt hatte. „Ich habe Respekt gelernt, Geduld, Fairness“, zählt Voges auf. Sport ist für ihn auch ein Sozialtraining, das vor reinem Egoismus schützen kann. Kann, betont er. Für die „Kameltreiber“-Rufe des Radsporttrainers in Tokio fällt ihm keine Entschuldigung ein: „So etwas kommt von innen. Da hängt eine Haltung hinter.“ 

Voges packt seine Sachen wieder zurück in seinen Rucksack. „Eigentlich hasse ich laufen“, sagt er dann. Nachts um 3 Uhr könne man ihn wecken, um ihn zum Fußballspielen abzuholen, aber Laufen – nee. Mit dem Geher-Sport hat er zum Ende der Schulzeit aufgehört. Dass er immer sportlich geblieben ist, sieht man ihm aber an. Und dass er Sport als fairen Wettkampf liebt, das hört man einfach raus, wenn der Kirchenmann zum Beispiel über die Olympischen Spiele in Japan mit Niesel fachsimpelt.

 

Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung / Norbert Mierzowsky